Dienstag, 11. Dezember 2007

Anna Dünnebier

Laudatio für die Produktion „Das Versteck“

Wir verleihen der Produktion „Das Versteck“ den Kurt-Hackenberg-Preis aus zwei Gründen:

Einmal, weil sie einige der wichtigsten Themen unserer Zeit, nämlich Verfolgung, Migration, religiöse Intoleranz auf sehr ungewöhnliche Weise behandelt, ohne bekannte Muster, ohne eine fiktive Konstruktion, ohne Gut-Böse-Klischee. Man kann nie in die Haltung verfallen: Das weiß ich, so ist es, die Welt ist schlimm und ich sehe das kritisch!

Und zweitens, weil dieses Stück eine Ästhetik bietet, welche die Ebenen Fiktion und Realität, Bühne und Zuschauer, politisch und privat auf verwirrende Weise neu deutet. Theatererwartung und Zuschauerhaltung werden umgekrempelt.

Das will ich etwas genauer ausführen.

Was erwartet ein Zuschauer, wenn ein Mann auf die Bühne tritt und versichert, kein Schauspieler zu sein? Dabei geht es auf dieser Bühne hoch artifiziell zu. Eine multimediale Vorstellung findet statt, mit Video, Tonaufnahmen, Fotos, Sprache, und langsam entsteht aus Erde und Sand eine graphische Landschaft, ein wunderbares vergängliches Kunstwerk. Private Geschichten werden ausgebreitet, die höchst politisch sind, und der Künstler auf der Bühne zeigt uns den Weg durch die gesehenen und erzählten Geschichten.

Sie handeln von einer kurdisch-alevitischen Großfamilie, die sich vor 100 Jahren in einem abgelegenen Gebirgsflecken in der Türkei ein Dorf als „Versteck“ vor ethnischer und religiöser Verfolgung bauten.
Aus diesem Versteck wanderten einzelne, viele aus, nach London, Berlin, Paris. Im Sommer kehren sie alle in ihr türkisches Dorf zurück, zu denen, die dageblieben sind. Das Dorf, der Fluchtort, wird zum Sehnsuchtsziel. Die Hauptstädte der Welt bedeuten zugleich Freiheit, aber auch Ausgrenzung, Verlorensein.

Ein Mitglied der Familie steht auf der Bühne, Ercan Arslan, bildender Künstler. Er erzählt, er bietet uns Tee an, er bezieht über Ton und Bild und dann sogar per Telefon die Großfamilie ein. So kommen die Beteiligten selbst zu Wort, tragen ihre Geschichte als orales Erzähltheater vor. Eine uralte Literaturgattung wird hier neu erfunden.
Sehr unspektakulär werden diese Geschichten erzählt, obwohl es doch um Krisen, Bedrohung, Flucht, Ausgrenzung geht. Dieses Politische erzählt sich durch den Alltag, erscheint in Geschichten von Freundschaften, Ferien, Schulbesuch, Hausbau, Opas Weisheit, der Religion, den kalten Wintern, der Natur, dem neuen Leben hier in Deutschland. Die Erfahrungen in der Heimat und in der Fremde ähneln sich. Ausgegrenzt wegen der Zugehörigkeit zu einem anderen Volk, einer anderen Religion. Das ist dort. Das ist hier.

Per Telefon-Live-Schaltung wird das Kölner Publikum mit dem Dorf verbunden. Eine Cousine meldet sich. Ist sie wirklich dort? Oder vielleicht mit ihrem Handy im Foyer? Was ist Fiktion, was gestaltet?
Die Cousine erzählt, was sie macht, wer im Hause ist, ob ihr Sohn in der Schule offenbaren kann, dass er Alevit ist, ob es noch schneit. Der Einbruch der gegenwärtigen Wirklichkeit wird dann zu einem theatertheoretischen Diskurs durch die Frage: War sie schon einmal im Theater? Die Antwort: Nein, nie, wofür ist das gut?

Wofür ist Theater gut, wofür politisches Theater? Dass es ein Stück Welt sichtbar macht, dass es eingefahrenes Denken stört, dass es uns anders reagieren lässt auf Vorgänge, mit denen wir meinten umgehen zu können.
Dafür, Herr Cirpici und Herr Arslan samt dem ganzen Team, haben sie den Kurt-Hackenberg-Preis verdient.

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