Das Dorf oder die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen im Jetzt
Erscheint dem fernen Blick die Migration wie eine Neuauflage spätantiker Völkerwanderungen, entpuppt sie sich in der Nahaufnahme als Ansammlung singulärer und sehr unterschiedlicher, die gängigen Vorstellungsmuster verstörende Ereignisse. Im Migranten gehen Zukunft und weit abliegende Vergangenheit eine alle Chronologie außer Kraft setzende Synthese ein. Das macht den Migranten zum eigentlichen Helden der Postmoderne.
So lässt sich eine der theatralischen Thesen der Performance >Das Dorf< formulieren. Jenseits aller Flüchtlings- und Emigrantenromantik betritt der wirkliche Migrant, als Gestalt des geschichtlich Neuen, in der Inszenierung leibhaftig die Bühne. Ein Archetyp, den das 20. Jahrhundert erschuf: der Mensch mit dem Koffer.
Nur das Ercan Arslan mit modernster Kommunikationstechnik ausgerüstet und keine Kunstfigur ist. Ercan Arslan ist oder spielt Ercan Arslan und lässt anhand von Videosequenzen, Tonmitschnitten und Telefon-Liveschaltungen zu seinen Angehörigen in Realzeit das Publikum an seiner eigenen Geschichte wie der seiner Familie teilnehmen. Interaktiv.
Die Fragen der Zuschauer werden per Telefon ins Taurusgebirge geschaltet. In der erdnahen Umlaufbahn verbindet ein Satellit nicht nur verschiedene geographische Räume, sondern schafft auch Simultanität zwischen unterschiedlichen geschichtlichen Ausläufern im Strom der Zeit.
Migration bedeutet hier nicht nur eine abenteuerliche und gefahrvolle Reise durch den Raum sondern auch die zeitliche Beschleunigung von Erfahrung.
Die Überwindung von bäuerlich dominierten Verhältnissen, die - wenn überhaupt vergleichbar - im Westen mehrere Jahrhunderte in Anspruch nahm, müssen andere Kulturen in einer, maximal zwei Generationen durchleben. Mit den Mitteln modernster Technik wird versucht Zugang zu diesem fremden Erfahrungskern zu schaffen, in dem unterschiedlichste, weit auseinander liegende Epochen verschmolzen sind oder ineinander übergehen.
Die Darstellung bewegt sich jenseits von Repräsentation und Simulation. Die theatralischen Zeichen haben keine Stellvertreterfunktion. Die Authentizität von Darsteller und >storyline< erzeugen einen Gestus der Präsentation: präsentiert wird Gleichzeitigkeit historisch ungleichzeitiger Prozesse, die im Subjekt der Inszenierung - dem Migranten - neue Verbindungen eingehen. Real ist dieses Subjekt aber, weil es durch seine Selbstsimulation zugleich auf dem Kamm der Welle schwimmt, die Gegenwart heißt und das Gegenwärtige ausmacht.
Erzählt wird von fünf Brüdern, die zu Beginn des letzten Jahrhunderts auszogen, nicht um in Alaska nach Gold zu suchen oder nach Diamanten in den Minen Südafrikas zu schürfen, sondern in ein fernab von allen menschlichen Behausungen gelegenes Gebirge.
Als erste Station einer Migrationsbewegung wollten sie hier vor allem ethnischer und religiöser Verfolgung entgehen. Denn bei der Familie Arslan handelt es sich um Kurden alevitischen Glaubens, also um Mitglieder einer religiösen Minderheit, die einer sinnenfreudigen Spielart des Islam anhängen.
Dieses Familiendorf, eine selbst für agrarisch geprägte Gesellschaften extreme Siedlungsform, verlässt Aziz Arslan in den sechziger Jahren, um in Deutschland zu arbeiten. Frau und Kinder bleiben in der Türkei. Als seine kleinen Söhne 1980 eines morgens ihren Lehrer wie in alttestamentarischer Zeit zu Tode gesteinigt vor der Schule finden, kann er die Familie nach Berlin holen und in Sicherheit bringen. Um diesen Sprung aus dem Dorf in die Metropolen Europas gruppiert sich fortan das Denken und Fühlen der Dörfler. Ein Sprung, der das gesamte Dorf mit in eine neue Epoche riss.
Gab es damals noch keinen Strom, verfügen seine Bewohner heute über Solarenergie, TV und Milchrührmaschine. Gemolken wird weiterhin per Hand.
Einhundert Jahre nach der Gründung des Dorfes leben dessen Töchter und Söhne als interkulturell kompetente Künstler, Pädagogen oder Kaufleute in Berlin, London und Paris, um jeden Sommer zu ihrem Ursprungsort, der Quelle ihrer kulturellen Identität zurückzukehren.
Frank - M. Raddatz, Januar 2005
Erscheint dem fernen Blick die Migration wie eine Neuauflage spätantiker Völkerwanderungen, entpuppt sie sich in der Nahaufnahme als Ansammlung singulärer und sehr unterschiedlicher, die gängigen Vorstellungsmuster verstörende Ereignisse. Im Migranten gehen Zukunft und weit abliegende Vergangenheit eine alle Chronologie außer Kraft setzende Synthese ein. Das macht den Migranten zum eigentlichen Helden der Postmoderne.
So lässt sich eine der theatralischen Thesen der Performance >Das Dorf< formulieren. Jenseits aller Flüchtlings- und Emigrantenromantik betritt der wirkliche Migrant, als Gestalt des geschichtlich Neuen, in der Inszenierung leibhaftig die Bühne. Ein Archetyp, den das 20. Jahrhundert erschuf: der Mensch mit dem Koffer.
Nur das Ercan Arslan mit modernster Kommunikationstechnik ausgerüstet und keine Kunstfigur ist. Ercan Arslan ist oder spielt Ercan Arslan und lässt anhand von Videosequenzen, Tonmitschnitten und Telefon-Liveschaltungen zu seinen Angehörigen in Realzeit das Publikum an seiner eigenen Geschichte wie der seiner Familie teilnehmen. Interaktiv.
Die Fragen der Zuschauer werden per Telefon ins Taurusgebirge geschaltet. In der erdnahen Umlaufbahn verbindet ein Satellit nicht nur verschiedene geographische Räume, sondern schafft auch Simultanität zwischen unterschiedlichen geschichtlichen Ausläufern im Strom der Zeit.
Migration bedeutet hier nicht nur eine abenteuerliche und gefahrvolle Reise durch den Raum sondern auch die zeitliche Beschleunigung von Erfahrung.
Die Überwindung von bäuerlich dominierten Verhältnissen, die - wenn überhaupt vergleichbar - im Westen mehrere Jahrhunderte in Anspruch nahm, müssen andere Kulturen in einer, maximal zwei Generationen durchleben. Mit den Mitteln modernster Technik wird versucht Zugang zu diesem fremden Erfahrungskern zu schaffen, in dem unterschiedlichste, weit auseinander liegende Epochen verschmolzen sind oder ineinander übergehen.
Die Darstellung bewegt sich jenseits von Repräsentation und Simulation. Die theatralischen Zeichen haben keine Stellvertreterfunktion. Die Authentizität von Darsteller und >storyline< erzeugen einen Gestus der Präsentation: präsentiert wird Gleichzeitigkeit historisch ungleichzeitiger Prozesse, die im Subjekt der Inszenierung - dem Migranten - neue Verbindungen eingehen. Real ist dieses Subjekt aber, weil es durch seine Selbstsimulation zugleich auf dem Kamm der Welle schwimmt, die Gegenwart heißt und das Gegenwärtige ausmacht.
Erzählt wird von fünf Brüdern, die zu Beginn des letzten Jahrhunderts auszogen, nicht um in Alaska nach Gold zu suchen oder nach Diamanten in den Minen Südafrikas zu schürfen, sondern in ein fernab von allen menschlichen Behausungen gelegenes Gebirge.
Als erste Station einer Migrationsbewegung wollten sie hier vor allem ethnischer und religiöser Verfolgung entgehen. Denn bei der Familie Arslan handelt es sich um Kurden alevitischen Glaubens, also um Mitglieder einer religiösen Minderheit, die einer sinnenfreudigen Spielart des Islam anhängen.
Dieses Familiendorf, eine selbst für agrarisch geprägte Gesellschaften extreme Siedlungsform, verlässt Aziz Arslan in den sechziger Jahren, um in Deutschland zu arbeiten. Frau und Kinder bleiben in der Türkei. Als seine kleinen Söhne 1980 eines morgens ihren Lehrer wie in alttestamentarischer Zeit zu Tode gesteinigt vor der Schule finden, kann er die Familie nach Berlin holen und in Sicherheit bringen. Um diesen Sprung aus dem Dorf in die Metropolen Europas gruppiert sich fortan das Denken und Fühlen der Dörfler. Ein Sprung, der das gesamte Dorf mit in eine neue Epoche riss.
Gab es damals noch keinen Strom, verfügen seine Bewohner heute über Solarenergie, TV und Milchrührmaschine. Gemolken wird weiterhin per Hand.
Einhundert Jahre nach der Gründung des Dorfes leben dessen Töchter und Söhne als interkulturell kompetente Künstler, Pädagogen oder Kaufleute in Berlin, London und Paris, um jeden Sommer zu ihrem Ursprungsort, der Quelle ihrer kulturellen Identität zurückzukehren.
Frank - M. Raddatz, Januar 2005
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